Samstag, 27. März 2010

Die Cartoneros der Villa Itatí

Ich habe sie in meinen Rundbriefen schon häufiger erwähnt. In den ersten Wochen hier in Argentinien hat mich ihr Anblick erschreckt und zugleich fasziniert. Heute gehören sie für mich zum Stadtbild dazu und sind fast normal geworden: Die Cartoneros.
Cartoneros sind Menschen, die meist auf Pferdewagen durch die Stadt fahren und aus dem Müll, der vor den Häusern steht, alles raus sammeln, was verkäuflich oder brauchbar ist. Generell sind das Unmengen an Papier, Pappe und eben Karton, die pro Kilo an Recyclingfirmen verkauft werden können.
Es gibt eine öffentliche Müllabfuhr, doch wenn wir unseren Müll an die Laterne vor der Tür hängen, damit die Hunde sie auf dem Boden nicht zerfetzen und alles auf der Straße verteilen, können wir davon ausgehen, dass einer der vielen Cartoneros ihn vorher abholt.
Beinahe in jeder Straße sieht man einen der aus Brettern und zwei Autoreifen zusammengezimmerten Wagen, beladen mit Bergen aus Papier aber auch Altmetallen und Pfandflaschen. Die Menschen, die diese Arbeit als letzte Möglichkeit vor der Arbeitslosigkeit verrichten, sind zu 100% Bewohner der Villas. In reicheren Vierteln sind sie auch daher nicht gerne gesehen.
Oft sieht man Wagen, die von Kindern gefahren und beladen werden, die halb so alt sind wie wir selbst. Kinder, die für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie auch nachts schuften müssen und morgens völlig übermüdet in unserem Apoyo sitzen.
Nach der großen Wirtschaftskrise, die Argentinien 2001 an den Rand des Bankrotts brachte, zogen tausende Menschen, die ihre Arbeit verloren hatten in die Armenviertel von Buenos Aires. Auch in die Villa Itatí. Eine Gruppe von Familien, die nun zwangsweise alle Cartoneros waren, schlossen sich zu einer Art Genossenschaft zusammen, um gemeinsam größere Mengen an gesammelten Abfällen absetzen und damit höhere Preise erzielen zu können.
Es entstand die „Asociación de los Cartoneros de la Villa Itatí“.
Aus dieser Asociación sind nach und nach alle sozialen Projekte entstanden, in denen ich heute arbeite. Angefangen mit dem Apoyo Escolar, den eine Frau eines Cartoneros für die Kinder der Asocición in ihrem Wohnzimmer begann.
Wenn ich in den vergangenen Monaten in den Apoyo gegangen bin, konnte ich die Arbeit beobachten, die die Cartoneros auf dem Innenhof der Asociación verrichten. In meinen Sommerferien habe ich zwei Wochen mit ihnen gearbeitet, um mehr über ihre Arbeit und die Aociación zu erfahren.


Der Hof der Asociación liegt direkt neben dem Gebäude meines Apoyos. Als deutscher Freiwilliger im Barrio ( Viertel ) war ich vielen der Cartoneros schon bekannt.
Das Gelände der Asociación besteht aus einem großen Innenhof, einer kleinen Halle, in der eine Papierpresse steht und einem Anbau mit einer Küche und einem Aufenthaltsraum.
Die Arbeit beginnt täglich um 8 Uhr und in zwei Schichten wird dann bis 24 Uhr in der Nacht gearbeitet. Ich hatte mich für die frühe Schicht eingetragen und mir so vorgenommen zwei Wochen von 8 bis 17 Uhr als Cartonero zu arbeiten. An meinem ersten Arbeitstag erschien ich deutsch-überpünktlich um kurz vor 8 Uhr. Als die anderen dann um halb 9 kamen und ich um viertel vor 9 beim Matétrinken fragte „Wann fangen wir eigentlich an?“, bekam ich die Antwort: „Wir fangen an, wenn wir anfangen.“
Diese Lässigkeit wird durch die Schwere der Arbeit aber mehr als ausgeglichen.
Die Aufgabe der Männer, die in der Asociación arbeiten ist nicht, raus auf die Straße zu fahren und Müll zu sammeln. Die Familien, die mit ihren Pferdegespannen oder auch zu Fuß in den Straßen unterwegs sind, bringen ihre Ladung zur Asociación und können sie dort verkaufen.

Die Cartoneros an der Waage.


Das Herzstück der Asociación ist eine große schwere Lastenwaage, über die alles geht, was von den „Straßen-Cartoneros“ gekauft wird. Der Ablauf ist immer der selbe:
Ein Cartonero lenkt sein völlig erschöpftes Pferd auf den Hof der Asociación und lädt ab, was er in den Straßen gefunden hat. Blech, Eisen, Säcke voller Papier, Zeitungen und Pappe, Pfandflaschen und Altglas. Die Cartoneros, die in der Asociación arbeiten – und das war dann auch meine Aufgabe – sortieren das alles, wiegen es ab und notieren die Kilozahlen auf einem Zettel, damit sich der Cartonero, der die Ladung gebracht hat, im Büro sein Geld abholen kann. Manche bringen mehr, andere weniger. Manchmal kommen Kinder, die in einem Straßengraben ein paar Blechdosen gefunden haben oder einen alten Kinderwagen. Für die anderthalb Kilo Blech gibt es 40 centavos ( 8 cent ). Die Männer und Familien, die mit den Pferdegespannen unterwegs sind bringen an guten Tagen manchmal 80 Kilo Karton und 200 Kilo Metall. Das bringt dann 200 Pesos, etwa 40 Euro. Das ist viel Geld, aber wenn man die Mühe bedenkt, die man aufbringen muss, um das alles zu sammeln, ist es Nichts.
Die Metalle werden nach Sorte aufgestapelt, die PET-Flaschen nach Farbe sortiert und Pappe zu großen Würfeln gepresst, bevor alles verladen und weggebracht wird. Die PET-Flaschen haben wir mit dem LKW (übrigens ist der LKW, ein Mercedes Jahrgang 1948, hier kein Oldtimer sondern ein ganz normales Gebrauchsfahrzeug) zu einer Firma gefahren, die damit in China unter anderem Kleidung für den europäischen Markt fabriziert.
Die Arbeit ist hart und die Hitze macht es auch nicht besser. Wir machen immer wieder Pausen, trinken CocaCola, das Lieblingsgetränk der Cartoneros. Den Cartoneros mit denen ich gearbeitet habe ist absolut nichts heilig und über alles und jeden wird hergezogen. Es gibt keine Minute, in der nicht gescherzt und gelacht wird. Als ich dann, um mich einzubringen, ebenfalls einen harten Witz über einen der Cartoneros machte, wurden schlagartig alle ernst. Ich musste entsetzt feststellen, dass ich mit dem Vater, den zwei Brüdern und gefühlten 15 Cousins des Cartoneros zusammenstand, über den ich mich gerade lustig gemacht hatte. Nach zwei endlosen Sekunden lachten alle gleichzeitig los, klopften mir auf die Schulter und einer sagte: „Genau so! Ist nicht schlimm. Hier kriegt jeder sein Fett weg!“ Ich war wohl aus dem Schneider, aber trotzdem war es mir absolut peinlich und ich beschloss diesem Trend nicht weiter nachzugehen.
Eine der schlimmen Folgen dieser „Müllwirtschaft“, die in der Villa betrieben wird, ist, dass tonnenweise Abfälle und Müll in das Viertel geschleppt werden. Wenn sie zum Verkauf nicht taugen, bleiben sie in den Straßen liegen und die Bewohner wissen nicht wohin damit. Einfachste Lösung ist die Müllhaufen anzuzünden. In einer Mittagspause hatte mich ein Kollege in sein Haus eingeladen. Vor seinem Haus brannte eines dieser großen Müllfeuer und man sah den schwarzen Plastikrauch über die Hütten und durch die Gassen wegziehen. Ich machte eine Bemerkung darüber, wie giftig dieser Rauch und die Gase seien. Seine Antwort haute mich fast vom Stuhl und zeigte mir, wie wichtig Bildung ist. Er sagte: „Echt das ist giftig, das wusste ich gar nicht. Aber egal, wenn wir hier nichts verbrennen, dann gibt es ja auch keine Wolken und dann gibt es auch kein Regen und Regen brauchen wir.“
Den Rest der Pause verbachte ich damit, ihm den Unterschied zwischen Qualm und Rauch, giftigen Gasen und Wolken zu erklären.

Die Männer verdienen mit ihrer Arbeit in der Asociación 40 Pesos am Tag. Also 8 Euro. Das Gute an einer solchen Stelle ist, dass die Asociación einen sozialen Charakter hat. Alles Geld, das erwirtschaftet wurde, wird zu gleichen Teilen unter den Angestellten aufgeteilt. Es gibt keine Besserverdienenden. Das Beste ist aber, dass die Männer, wenn sie krank sind und nicht arbeiten können, weiter bezahlt werden bis sie zurück sind.
Ich hatte nach jedem Arbeitstag das Gefühl, etwas geschafft zu haben. Man lernt das was man hat unglaublich mehr zu schätzen. Jeden Tag nach der Arbeit, wenn ich unter der Dusche stand und darüber nachdachte, dass ich noch nie so eine dreckige Arbeit gemacht habe, habe ich auch darüber nachgedacht, dass ich der einzige von den Arbeitern bin, der unter einer Dusche und dazu noch einer warmen steht.
Ich habe in der Asociación angefangen, um mehr über die Arbeit der Cartoneros zu erfahren. Zu großen Teilen aber auch, um die Villa an sich und die Menschen, die in ihr Leben besser kennen zu lernen und zu zeigen, dass wir deutschen Freiwilligen auch da mit anpacken können, wo es dreckige Arbeit gibt. Mit jedem Menschen, den ich in dieser Zeit kennen gelernt habe und mit jedem, der mich wegen dieser Zeit jetzt wiedererkennt, fühle ich mich in der Villa sicherer.
Ich habe in den Cartoneros eine Gruppe von Männern kennen gelernt, auf die man sich verlassen kann und die gemeinsam an einem Strang ziehen. Ganz im Gegenteil zu dem Bild, das durch die Fernsehkanäle in Argentinien von den Bewohnern der Villa gezeichnet wird.
Dieser Eindruck wurde in der letzten Woche auf eine harte Probe gestellt. Auf dem Weg zum Projekt schaute ich in der Asociación vorbei um nach den Cartoneros zu sehen. Einer der älteren Cartoneros saß draußen vor der Halle auf einem Sack Karton und fragte mich: „Hey, kannst du dich noch an M. erinnern? Den Typ mit den kurzen Haaren?“
Konnte ich. „Ja, ich war gestern bei ihm und hab in seinem Haus einen Maté getrunken. Netter Kerl.“
„Nun, der hat gestern Nacht zwei Menschen erschossen und einen verletzt.“


Zwei Stunden nach meinem Besuch bei M. einem Cartonero, mit dem ich auch gearbeitet hatte, war wohl eine Gruppe neuer „Siedler“, mit der er länger Stress hatte, bei ihm zuhause gewesen und hatte ihn mit einer Waffe bedroht. Am Abend ist er dann mit einem Freund zu diesen Männern gegangen und hat sich gerächt.
Am nächsten Tag war M. mit seiner ganzen Familie verschwunden, seine Hütte abgerissen.
Als ich diese Geschichte dann erzählte hörte ich als erste Reaktion: „Tja, da siehst du mal, wie man sich in Menschen täuschen kann.“
Nein, ich habe mich nicht in M. getäuscht und in keinem der anderen Männer. Ich habe für kurze Zeit verdrängt, wo ich bin und was menschenunwürdige Lebensumstände, Armut und Perspektivlosigkeit in Menschen auslösen können.


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