Donnerstag, 15. Juli 2010

Mein letzter Runbrief

Liebe Familie,
Liebe Freunde,
Liebe Unterstützer,

bei keinem meiner bisherigen Rundbriefe ist es mir so schwer gefallen einen Anfang zu finden. Dieser vierte Brief ist mein letzter. Ich blicke zurück und habe ein ganz besonderes Jahr hinter mir. Es ist schwierig diese Erfahrung, die eigentlich aus tausenden kleinen Momenten und Eindrücken besteht, in Worte zu fassen und diese Flut an neuen Erkenntnissen und vor allem den vielen herzlichen oder auch schwierigen Begegnungen, die ich erlebt habe, zu einem würdigen Fazit zu verfassen.
Das Gefühl, in einer Woche wieder aus unserer Wohnung in der Larrea 26 mit dieser ruhigen Wohnlage und den undichten Wänden auszuziehen, ist so unwirklich, dass ich nicht mal das Internet abbestellt habe. Die nächste Woche, die vor mir liegt, ist gefüllt von „letzten Malen“. Das letzte Mal zum Sport, das letzte Mal mit meinem Chef treffen, das letzte Mal in der Zeitungsredaktion arbeiten, das letzte Mal zum Spanischkurs, das letzte Abendessen mit all meinen Kollegen, das letzte Mal „reunión,“ (Mitarbeitertreffen) das letzte Mal feiern gehen und dann - das letzte Mal mit den Kids im Projekt sein, sie das letzte Mal in den Arm nehmen und nach Hause verabschieden. Ich freue mich auf alle diese Programmpunkte, nur der letzte wird mir wohl ziemlich schwer fallen.


Ich habe in dem letzten Jahr in der Welt der Unterschiede gelebt. Der Unterschied zwischen Europa und Lateinamerika. Der Unterschied zwischen stinkreich und bettelarm. Der Unterschied zwischen der Glitzerwelt der Nachtszene in Buenos Aires und den dreckigen abwässergetränkten Straßen in der Villa. Eine neue Erfahrung war es für mich auch, den Unterschied zwischen „Tourist sein“, der nur kurz das Land bereist und mit den Geschehnissen eigentlich nichts zu tun hat und „Ausländer/Einwanderer sein“, der mit all den Vorzügen und Nachteilen seines neuen Gastlandes zu kämpfen hat, an mir selbst zu erleben. In Argentinien habe ich mich immer sehr freundlich und herzlich aufgenommen gefühlt. Ich habe eine Gastfreundschaft erfahren, wie ich sie vorher nicht kannte. Die schmerzhaftere aber wohl wichtigere Erfahrung habe ich während der Weltmeisterschaft gemacht. Als ich das erste Mal, wegen meiner Herkunft beschimpft wurde und die Sinnlosigkeit und Stumpfsinnigkeit von Fremdenhass selbst erfahren habe. Die „La Nación“ die größte argentinische Tageszeitung hat kurz nach dem Sieg der Spanier über die Deutschen einen Artikel von einem Korrespondenten aus München darüber herausgebracht, wie ruhig und friedlich die Deutschen die Spanier haben feiern lassen und wie selbstverständlich die spanischen Fans sich mit Fahnen in eine deutsche U-Bahn setzen konnten, ohne dass es zu Krawallen kam. Der Titel war „In Argentinien ein unvorstellbares Szenario.“ Zwei meiner Mitfreiwilligen haben nach dem Spiel Deutschland-Argentinien am eigenen Leibe „gespürt bekommen“ wie recht dieser Artikel hatte.
An einem Nachmittag in unserer Nachhilfeklasse saß ich mit einem neuen Mädchen, das aus Paraguay zu uns gekommen war in der Sonne und redete über dies und das, als sie plötzlich fragte: „Du bist doch Ausländer oder?“ – „Ja ich bin Ausländer.“ „Wirst du deswegen oft diskriminiert?“ Als Europäer bin ich ein Jahr lang von den Argentiniern auf Händen getragen worden, dachte ich und sagte: „Nein, wieso fragst du?“ und sie antwortete: „Ich werde immer diskriminiert. In der Schule werde ich immer ausgeschlossen und alle lachen darüber wie ich rede. Auch wenn ich hier durch die Villa gehe. Die wollen hier einfach keine Paraguayos.“ Im Nachhinein ist mir selbst überhaupt nichts passiert während der WM, aber allein durch eine Situation der Ausgrenzung, die dazu auch noch nur auf Fußball begründet war, habe ich mich unwohl, unsicher und schlecht in meiner Haut gefühlt. Dadurch habe ich aber erst im Ansatz begriffen, wie sich eine Person, wie dieses kleine Mädchen fühlt, die täglich damit zu kämpfen hat und wie sich Ausländer in Deutschland und allen anderen Teilen der Welt fühlen, die nun nicht immer so leicht akzeptiert sind wie die feiernden Spanier.

Meine Zeit hier in Buenos Aires stand unter dem Titel „Freiwilliger Friedensdienst“. Zum Abschluss habe ich mir oft die Frage gestellt: Was habe ich und was haben wir Freiwilligen in diesem Jahr geschafft? Wie haben wir in dieser Zeit dem „Frieden“ „gedient“?
Ich habe für mich selbst keine zufriedenstellende Antwort gefunden. Sicher haben wir im ganz Kleinen den Frieden in unseren Projekten unterstützt. Wenn es darum ging, wer mit der Schlägerei angefangen hat oder wer denn jetzt mehr schuldig ist. Der, der den anderen verhauen hat oder der, der zwei Sekunden vorher die Mutter des anderen aufs Übelste beschimpft hat? Wenn man streng sein musste, um solche Situationen nicht aufkommen zu lassen. Aber auch wenn man manchmal milde war und sagen musste: „Okay! Dann singt ihr die deutsche Nationalhymne halt nicht, obwohl ihr die WM-Wette verloren habt und es eigentlich müsstet!;-)“ Oder wenn man die Kinder auf den Arm nimmt, ihre Füße dadurch zwei Minuten von dem schlammigen Boden trennt und das Glück dieser seltenen Freude in ihren Gesichtern sieht. Doch all dies ist für mich persönlich nicht mit dem aufzuwiegen, was ich in diesem Jahr selbst erfahren, erleben und lernen durfte. Ich habe unglaublich viel empfangen und konnte nur einen Bruchteil davon zurückgeben. Doch genau darin liegen die große Chance und der wertvollste Sinn an einem Friedensdienst im Ausland: Wir haben gesehen, wir haben geteilt, wir haben zugehört und wir haben erfahren. An vielen Baustellen konnten wir während unserem Jahr nur kurz und vorrübergehend helfen. Vielleicht wird in einiger Zeit auch klar, dass die Früchte, die wir gesät haben nicht aufgehen, dass einige unserer Schülerinnen trotz der Anstrengung von unseren Kollegen und uns in der Prostitution enden. Doch auch in diesem schrecklichen Fall wäre unsere Arbeit nicht vergebens. Wir haben getan, was wir in unserer Zeit hier konnten und zum Glück werden (jedenfalls in meinem Projekt) bald die nächsten Freiwilligen anreisen, die zusammen mit den vielen Menschen, die hier bereits anpacken, die Arbeit weiter führen. Für uns, die jetzt bald abreisen, kommt es darauf an, welchen Baustellen wir uns langfristig widmen. Haben wir verstanden, dass soziale Gerechtigkeit uns besser vor Raub und Totschlag schützt als vor jedes Fenster Eisengitter zu hängen und in der Dunkelheit nicht aus dem Haus zu gehen? Ist uns klar geworden, dass ein funktionierender Sozialstaat, in dem die Starken die Schwachen unterstützen, uns davor bewahrt das Einkommen eines Menschen daran zu erkennen, wie viele Zähne er im Mund hat und ob seine Kinder Schuhe tragen? Und wollen wir, dass unsere Kinder irgendwann ein Auslandsjahr machen und dieselben Geschichten erzählen müssen wie wir?

An dieser Stelle möchte ich ganz besonders meinen Unterstützern danken, die in meinem Spenderkreis mit dafür gesorgt haben, dass meine Entsendeorganisation, die Evangelische Kirche von Westfalen, den Freiwilligen Friedensdienst im Ausland finanziell schultern kann.
Durch diese Unterstützung habt ihr vielleicht direkt eine Person unterstützt und einen freundschaftlichen Gedanken zu mir Gestalt werden lassen, aber indirekt habt ihr mit euren großzügigen Spenden Projekten beigestanden, die noch viel größer und weitreichender sind. Ein Freiwilliger Friedensdienst wäre ohne diese Unterstützer nicht möglich und ich hoffe, ich konnte euch mit meinen Rundbriefen zeigen, wie wertvoll dieser Dienst für mich war und was er auch für andere Menschen bedeutet, die diese Hilfe dringend gebraucht haben und weiter brauchen.
Vielen vielen herzlichen Dank an:

Den gesamten Förderkreis Beyondwar e.V.

Die Gustav Alberts Gmbh & Co.KG aus Herscheid

Marion Rust

Doris Hagemeier

Rainer Hector

Joachim Stöver

Markus und Antje Rochel

Georg und Birgit Merklinger

Gernot und Uschi Hanke

Ite Gossmann

Donald und Shirley Chen




Freitag, 2. Juli 2010

Deutschland - Argentinien
Der Abend vor dem Sturm

Um euch die missliche Lage, in der ich stecke, kurz zu beschreiben möchte ich euch eine Nachricht zeigen, die ich gerade aus dem Diakonie-Büro bekommen habe, das für uns Frewillige zuständig ist (Achtung! Satire!):

Betreff: como sobrevivir el sábado...

Lamentamos que la embajada ni nos mando una respuesta, ni una invitacion, entonces tienen que ver el partido sin fuerte seguro y cuidarse de otra manera. Nosotros proponemos: ponerse una remera albiceleste,ensaya un acento dinamarces, grita a Schweinsteiger "estas nervioso?" y a todo el equipo "que la sigan mamando!", manda mensajes a amigos argentinos que queres quemar tu pasaporte. Suerte chicos!

sdkhgfowshglsdglsdglsdglsdjgbsldjgbsdjbfvsdjvbsdjvbsdjvfbsj

Was auf deutsch heißt:

wefblewfbwlefbwlefbwlefbwelfbwlefbweljfbwelfbwlejfb

slekdnflekgfnlwekfglwekfbwlebfwlefbwlefbwlefbewljf

Betreff: Wie den Samstag überleben...
Wir müssen euch leider mitteilen, dass die (deutsche) Botschaft uns weder eine Antwort, noch eine Einladung geschickt hat. Also müsst ihr die Partie ohne starken Schutz gucken und auf andere Weise auf euch aufpassen. Wir schlagen vor: Sich ein weiß-blaues T-Shirt anzuziehen, einen dänischen Akzent aufzulegen, Schweinsteiger zuzurufen "Estas nervioso?" ("Bist du nervös?) und dem ganzen deutschen Team "Que la sigan mamando" (Hier aus moralischen Bedenken nicht übersetzt) und schickt euren argentinischen Freunden SMSe, dass ihr euren Pass verbrennen wollt. (Im Falle eines deutschen Sieges)
Viel Glück Leute.

Die Anspannung vor dem großen Spiel - dem "Partidazo" - ist mit den Händen greifbar.
Ich werde das Spiel im Kreis meiner Kollegen und Bekannten in der Villa gucken. Ich freue mich sehr, ich denke wie ihr alle, auf diese Begegnung und hoffe, dass die Gerüchte um die argentinische Eitelkeit nicht allzu wahr sind. Das weiß-blaue T-Shirt liegt jedenfalls bereit.
Buenos Aires durfte heute schon lautstark feiern: Als Brasilien aus der WM ausgeschieden ist. Ein Erzfeind - ein "clasico" - ist damit "besiegt".

Vamos Argentina!

Montag, 28. Juni 2010

Was für ein Fussball-Sonntag

Das war mal ein Tag, an dem wir Freiwilligen gleich 8 Mal jubeln durften. Einmal, als das englische „Tor von Bloemfontein“ nicht gewertet wurde, 4 Mal, als unsere deutschen Tore glanzvoll die Engländer vom Spielfeld geballert haben und 3 Mal, als unser Zweitteam - die „selección argentina“ - die Mexikaner besiegt hat. So kommt am Samstag das Hammerspiel Deutschland – Argentinien auf uns zu. Seit dem 11. Juni schon sind die Argentinier noch viel verrückter nach Fussball als sie es eh schon sind. Im Moment ist Maradona der Staatschef, der schonmal angekündigt hat, im Falle des Weltmeistertitels nackt um den Obelisken zu rennen und damit eine Facebook-Gruppe mit einer Vielzahl von bereitwilligen Mitläufern aus allen Schichten gefunden hat.
Es gibt keinen Fernseher mehr, der nicht ein WM-Spiel zeigt oder einen Bericht darüber. Egal mit wem man redet, es gab für kurze Zeit nur noch zwei Themen: Die „selección argentina“ oder wie Deutschland gespielt hat. Seit diesem Sonntag sind diese Themen zu einem geworden und ich befürchte für die kommende Woche nichts Gutes. Die größte argentinische Tageszeitung „La Nación“ titelt angsterfüllt im Angesicht der Deutschen und mit bösen Erinnerungen an das letzte Viertelfinale 2006 aber auch mit großer Revanchelust. „Mit einer fürchterlichen Demonstrierung ihrer Macht kickten die Deutschen die Engländer vom Feld.“
„Doch zu diesem Viertelfinale gegen die Deutschen treten wir mit sehr viel mehr Offensivstärke an, als beim letzten Mal.“ („La Nación“ vom 28. Juni 2010)
Dieses Viertelfinale könnte für mich in Argentinien natürlich nicht spannender besetzt sein. Egal, wie das Spiel ausgeht, ich habe Grund zum Feiern. Je nach Ausgang des Spiels einmal ganz still und heimlich und einmal ausgelassener. Ich befürchte jedoch, dass meine Rolle als Verlierer weitaus stärker ausgeprägt sein wird. Wie ich die Argentinier kenne, darf ich mir bei einer Niederlage der Deutschen die restlichen drei Wochen ihre schelmischen Bemerkungen und Neckereien anhören, die bei jedem Fehler, den die die Deutschen machen, schon schlimm genug sind. Mehr Sorgen mache ich mir allerdings, dass Deutschland meine Asado-Freunde schon wieder aus der Weltmeisterschaft raushaut, was mir das Leben hier zum Abschluss nochmal echt schwer machen könnte.
Mit meinen Kindern aus dem Projekt steht schon der Wetteinsatz: Wenn Argentinien gewinnt, gibt es einen neuen Fußball fürs Projekt und wenn Deutschland gewinnt, müssen sie die deutsche Nationalhymne lernen und singen. Was den Kids mit ihrem schon großen patriotischen Herz sicher mehr schmerzen würde, als mir einen Fußball zu kaufen.

Samstag, 27. März 2010

Die Cartoneros der Villa Itatí

Ich habe sie in meinen Rundbriefen schon häufiger erwähnt. In den ersten Wochen hier in Argentinien hat mich ihr Anblick erschreckt und zugleich fasziniert. Heute gehören sie für mich zum Stadtbild dazu und sind fast normal geworden: Die Cartoneros.
Cartoneros sind Menschen, die meist auf Pferdewagen durch die Stadt fahren und aus dem Müll, der vor den Häusern steht, alles raus sammeln, was verkäuflich oder brauchbar ist. Generell sind das Unmengen an Papier, Pappe und eben Karton, die pro Kilo an Recyclingfirmen verkauft werden können.
Es gibt eine öffentliche Müllabfuhr, doch wenn wir unseren Müll an die Laterne vor der Tür hängen, damit die Hunde sie auf dem Boden nicht zerfetzen und alles auf der Straße verteilen, können wir davon ausgehen, dass einer der vielen Cartoneros ihn vorher abholt.
Beinahe in jeder Straße sieht man einen der aus Brettern und zwei Autoreifen zusammengezimmerten Wagen, beladen mit Bergen aus Papier aber auch Altmetallen und Pfandflaschen. Die Menschen, die diese Arbeit als letzte Möglichkeit vor der Arbeitslosigkeit verrichten, sind zu 100% Bewohner der Villas. In reicheren Vierteln sind sie auch daher nicht gerne gesehen.
Oft sieht man Wagen, die von Kindern gefahren und beladen werden, die halb so alt sind wie wir selbst. Kinder, die für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie auch nachts schuften müssen und morgens völlig übermüdet in unserem Apoyo sitzen.
Nach der großen Wirtschaftskrise, die Argentinien 2001 an den Rand des Bankrotts brachte, zogen tausende Menschen, die ihre Arbeit verloren hatten in die Armenviertel von Buenos Aires. Auch in die Villa Itatí. Eine Gruppe von Familien, die nun zwangsweise alle Cartoneros waren, schlossen sich zu einer Art Genossenschaft zusammen, um gemeinsam größere Mengen an gesammelten Abfällen absetzen und damit höhere Preise erzielen zu können.
Es entstand die „Asociación de los Cartoneros de la Villa Itatí“.
Aus dieser Asociación sind nach und nach alle sozialen Projekte entstanden, in denen ich heute arbeite. Angefangen mit dem Apoyo Escolar, den eine Frau eines Cartoneros für die Kinder der Asocición in ihrem Wohnzimmer begann.
Wenn ich in den vergangenen Monaten in den Apoyo gegangen bin, konnte ich die Arbeit beobachten, die die Cartoneros auf dem Innenhof der Asociación verrichten. In meinen Sommerferien habe ich zwei Wochen mit ihnen gearbeitet, um mehr über ihre Arbeit und die Aociación zu erfahren.


Der Hof der Asociación liegt direkt neben dem Gebäude meines Apoyos. Als deutscher Freiwilliger im Barrio ( Viertel ) war ich vielen der Cartoneros schon bekannt.
Das Gelände der Asociación besteht aus einem großen Innenhof, einer kleinen Halle, in der eine Papierpresse steht und einem Anbau mit einer Küche und einem Aufenthaltsraum.
Die Arbeit beginnt täglich um 8 Uhr und in zwei Schichten wird dann bis 24 Uhr in der Nacht gearbeitet. Ich hatte mich für die frühe Schicht eingetragen und mir so vorgenommen zwei Wochen von 8 bis 17 Uhr als Cartonero zu arbeiten. An meinem ersten Arbeitstag erschien ich deutsch-überpünktlich um kurz vor 8 Uhr. Als die anderen dann um halb 9 kamen und ich um viertel vor 9 beim Matétrinken fragte „Wann fangen wir eigentlich an?“, bekam ich die Antwort: „Wir fangen an, wenn wir anfangen.“
Diese Lässigkeit wird durch die Schwere der Arbeit aber mehr als ausgeglichen.
Die Aufgabe der Männer, die in der Asociación arbeiten ist nicht, raus auf die Straße zu fahren und Müll zu sammeln. Die Familien, die mit ihren Pferdegespannen oder auch zu Fuß in den Straßen unterwegs sind, bringen ihre Ladung zur Asociación und können sie dort verkaufen.

Die Cartoneros an der Waage.


Das Herzstück der Asociación ist eine große schwere Lastenwaage, über die alles geht, was von den „Straßen-Cartoneros“ gekauft wird. Der Ablauf ist immer der selbe:
Ein Cartonero lenkt sein völlig erschöpftes Pferd auf den Hof der Asociación und lädt ab, was er in den Straßen gefunden hat. Blech, Eisen, Säcke voller Papier, Zeitungen und Pappe, Pfandflaschen und Altglas. Die Cartoneros, die in der Asociación arbeiten – und das war dann auch meine Aufgabe – sortieren das alles, wiegen es ab und notieren die Kilozahlen auf einem Zettel, damit sich der Cartonero, der die Ladung gebracht hat, im Büro sein Geld abholen kann. Manche bringen mehr, andere weniger. Manchmal kommen Kinder, die in einem Straßengraben ein paar Blechdosen gefunden haben oder einen alten Kinderwagen. Für die anderthalb Kilo Blech gibt es 40 centavos ( 8 cent ). Die Männer und Familien, die mit den Pferdegespannen unterwegs sind bringen an guten Tagen manchmal 80 Kilo Karton und 200 Kilo Metall. Das bringt dann 200 Pesos, etwa 40 Euro. Das ist viel Geld, aber wenn man die Mühe bedenkt, die man aufbringen muss, um das alles zu sammeln, ist es Nichts.
Die Metalle werden nach Sorte aufgestapelt, die PET-Flaschen nach Farbe sortiert und Pappe zu großen Würfeln gepresst, bevor alles verladen und weggebracht wird. Die PET-Flaschen haben wir mit dem LKW (übrigens ist der LKW, ein Mercedes Jahrgang 1948, hier kein Oldtimer sondern ein ganz normales Gebrauchsfahrzeug) zu einer Firma gefahren, die damit in China unter anderem Kleidung für den europäischen Markt fabriziert.
Die Arbeit ist hart und die Hitze macht es auch nicht besser. Wir machen immer wieder Pausen, trinken CocaCola, das Lieblingsgetränk der Cartoneros. Den Cartoneros mit denen ich gearbeitet habe ist absolut nichts heilig und über alles und jeden wird hergezogen. Es gibt keine Minute, in der nicht gescherzt und gelacht wird. Als ich dann, um mich einzubringen, ebenfalls einen harten Witz über einen der Cartoneros machte, wurden schlagartig alle ernst. Ich musste entsetzt feststellen, dass ich mit dem Vater, den zwei Brüdern und gefühlten 15 Cousins des Cartoneros zusammenstand, über den ich mich gerade lustig gemacht hatte. Nach zwei endlosen Sekunden lachten alle gleichzeitig los, klopften mir auf die Schulter und einer sagte: „Genau so! Ist nicht schlimm. Hier kriegt jeder sein Fett weg!“ Ich war wohl aus dem Schneider, aber trotzdem war es mir absolut peinlich und ich beschloss diesem Trend nicht weiter nachzugehen.
Eine der schlimmen Folgen dieser „Müllwirtschaft“, die in der Villa betrieben wird, ist, dass tonnenweise Abfälle und Müll in das Viertel geschleppt werden. Wenn sie zum Verkauf nicht taugen, bleiben sie in den Straßen liegen und die Bewohner wissen nicht wohin damit. Einfachste Lösung ist die Müllhaufen anzuzünden. In einer Mittagspause hatte mich ein Kollege in sein Haus eingeladen. Vor seinem Haus brannte eines dieser großen Müllfeuer und man sah den schwarzen Plastikrauch über die Hütten und durch die Gassen wegziehen. Ich machte eine Bemerkung darüber, wie giftig dieser Rauch und die Gase seien. Seine Antwort haute mich fast vom Stuhl und zeigte mir, wie wichtig Bildung ist. Er sagte: „Echt das ist giftig, das wusste ich gar nicht. Aber egal, wenn wir hier nichts verbrennen, dann gibt es ja auch keine Wolken und dann gibt es auch kein Regen und Regen brauchen wir.“
Den Rest der Pause verbachte ich damit, ihm den Unterschied zwischen Qualm und Rauch, giftigen Gasen und Wolken zu erklären.

Die Männer verdienen mit ihrer Arbeit in der Asociación 40 Pesos am Tag. Also 8 Euro. Das Gute an einer solchen Stelle ist, dass die Asociación einen sozialen Charakter hat. Alles Geld, das erwirtschaftet wurde, wird zu gleichen Teilen unter den Angestellten aufgeteilt. Es gibt keine Besserverdienenden. Das Beste ist aber, dass die Männer, wenn sie krank sind und nicht arbeiten können, weiter bezahlt werden bis sie zurück sind.
Ich hatte nach jedem Arbeitstag das Gefühl, etwas geschafft zu haben. Man lernt das was man hat unglaublich mehr zu schätzen. Jeden Tag nach der Arbeit, wenn ich unter der Dusche stand und darüber nachdachte, dass ich noch nie so eine dreckige Arbeit gemacht habe, habe ich auch darüber nachgedacht, dass ich der einzige von den Arbeitern bin, der unter einer Dusche und dazu noch einer warmen steht.
Ich habe in der Asociación angefangen, um mehr über die Arbeit der Cartoneros zu erfahren. Zu großen Teilen aber auch, um die Villa an sich und die Menschen, die in ihr Leben besser kennen zu lernen und zu zeigen, dass wir deutschen Freiwilligen auch da mit anpacken können, wo es dreckige Arbeit gibt. Mit jedem Menschen, den ich in dieser Zeit kennen gelernt habe und mit jedem, der mich wegen dieser Zeit jetzt wiedererkennt, fühle ich mich in der Villa sicherer.
Ich habe in den Cartoneros eine Gruppe von Männern kennen gelernt, auf die man sich verlassen kann und die gemeinsam an einem Strang ziehen. Ganz im Gegenteil zu dem Bild, das durch die Fernsehkanäle in Argentinien von den Bewohnern der Villa gezeichnet wird.
Dieser Eindruck wurde in der letzten Woche auf eine harte Probe gestellt. Auf dem Weg zum Projekt schaute ich in der Asociación vorbei um nach den Cartoneros zu sehen. Einer der älteren Cartoneros saß draußen vor der Halle auf einem Sack Karton und fragte mich: „Hey, kannst du dich noch an M. erinnern? Den Typ mit den kurzen Haaren?“
Konnte ich. „Ja, ich war gestern bei ihm und hab in seinem Haus einen Maté getrunken. Netter Kerl.“
„Nun, der hat gestern Nacht zwei Menschen erschossen und einen verletzt.“


Zwei Stunden nach meinem Besuch bei M. einem Cartonero, mit dem ich auch gearbeitet hatte, war wohl eine Gruppe neuer „Siedler“, mit der er länger Stress hatte, bei ihm zuhause gewesen und hatte ihn mit einer Waffe bedroht. Am Abend ist er dann mit einem Freund zu diesen Männern gegangen und hat sich gerächt.
Am nächsten Tag war M. mit seiner ganzen Familie verschwunden, seine Hütte abgerissen.
Als ich diese Geschichte dann erzählte hörte ich als erste Reaktion: „Tja, da siehst du mal, wie man sich in Menschen täuschen kann.“
Nein, ich habe mich nicht in M. getäuscht und in keinem der anderen Männer. Ich habe für kurze Zeit verdrängt, wo ich bin und was menschenunwürdige Lebensumstände, Armut und Perspektivlosigkeit in Menschen auslösen können.


Ein Haufen Flaschen, die aufgestapelt werden wollen.

Eine meiner liebsten Besucher. Die Mädels aus meinem Apoyo finden immer etwas, dass sie verkaufen möchten.


Das Büro der Asociación, in dem die Cartoneros ausbezahlt werden.



Samstag, 20. Februar 2010

Freitag, 15. Januar 2010

Jonas mit E. Ein kleiner Poser.

Ein Tag mit weniger Kids. Da kriegen wir auch mal ein Gruppenfoto hin.