Montag, 2. November 2009

Mein erster Rundbrief

Dies ist mein erster Rundbrief, den ich nach den ersten drei Monaten verfasst habe. Ich berichte in dieser Zusammenfassung der ersten drei Monate, die hauptsächlich für meine Unterstützer und für meine Organisation gedacht ist über mein Projekt und die Situation in meiner Arbeit. Die nächsten Rundbriefe werden mit speziellen Themen mit Bezug auf Argentinien gefüllt sein.


Liebe Familie, Quilmes – Buenos Aires, November 09
Liebe Freunde,
Liebe Unterstützer,

alles ist anders gekommen, als ich mir das vorher gedacht habe. Nicht schlechter, nicht besser, einfach anders. Genauso, wie die Welt, in der ich jetzt lebe, absolut anders ist, als die vorher gekannte. Dies ist mein erster offizieller Rundbrief aus Argentinien. Die ersten drei Monate meines Freiwilligen Friedensdienstes sind also schon um.
Seit meinem Einzug in Quilmes – einem Stadtteil von Gran Buenos Aires – arbeite ich in der Villa Itatí, einem Armutsviertel. (Gesprochen: Wischa Itatí)
Als Freiwilliger versendet von der Evangelischen Kirche von Westfalen bin ich hier in Buenos Aires dem MEDH (Movimiento Ecumenico por los Derechos Humanos – Ökomenische Menschenrechtsbewegung) zugeteilt und arbeite in einem Projekt, das von dieser Bewegung begleitet wird.
Niemand weiß genau, wie viele Menschen in der Villa Itatí leben, aber man schätzt 15.000. Obwohl ich auch schon weit höhere Zahlen gehört habe.
Es gibt ein Netzwerk von sozialen Einrichtungen innerhalb der Villa, in denen wir Freiwilligen uns einbringen und engagieren. Jugendzentren, Nachhilfeorte, offene Angebote für die Kinder und Jugendlichen und Themenabende zum Beispiel über Drogen und Süchte.
Meine Hauptaufgabe ist die eines „Educador“ beziehungsweiße „Profesor“. Also Erzieher und Lehrer in einem der Nachhilfeorte. Jeden Morgen arbeite ich mit einer Gruppe von 25 Kindern zwischen 6 und 15 Jahren an ihren Hausaufgaben und Schularbeiten. Wir Frühstücken zusammen und verbringen den Rest der Zeit mit Spielen und Toben. Nachmittags gehen diese Kinder in die Schule und ich nach Hause. Ein paar Mal die Woche fahre ich dann abends wieder mit dem Bus in die Villa und verbringe den Abend in einem der Jugendzentren, um mit den Jungs zu spielen oder einfach nur zu reden. Ganz wichtig ist auch hier das gemeinsame Abendessen, da viele Jungs auch in das Zentrum kommen um eine tägliche warme Mahlzeit zu bekommen.
Die Kinder in meiner Gruppe sind wunderbar. Obwohl sie in kaum auszuhaltenden Umständen leben, sind sie unglaublich lebensfroh und ausgelassen. In den ersten Tagen war ich geschockt und ratlos, wie ich mit so einer Rasselbande klar kommen soll und hätte mir nie gedacht, dass diese Rüpel (die sie manchmal sind) mal auf mich hören würden. Jetzt freue ich mich jeden Tag auf die Kleinen, die mir schon vor der Tür um den Hals fallen und sofort planen, was wir gleich spielen werden.
„Aber erst mal wird ein bisschen gearbeitet!“ Ich setze mich dann mit einer Gruppe von vielleicht 3-6 Kindern an einen Tisch, gebe ihnen Aufgaben und helfe ihnen bei Schularbeiten. Durch diese Arbeit habe ich große Hochachtung vor den Menschen bekommen, die ihr ganzes Leben mit Kindern arbeiten, vor allem bei „schwierigen“ Kindern. Das Verhältnis zu meinen Kolleginnen ist sehr gut, obwohl während dem Vormittag kaum Zeit ist, sich zu unterhalten.
Ein sehr angenehmer Punkt unserer Arbeit ist, dass wir ziemlich frei darin sind, wie wir uns neben unseren Aufgaben weiter einbringen wollen. Mein Mitfreiwilliger gibt zum Beispiel seit dieser Woche Unterrichtsstunden zum Thema Umwelt und Natur. Ich habe gemerkt, dass die Kinder in meiner Gruppe, so wie wahrscheinlich alle Kinder der Villa, ein wahnsinnig großes Bedürfnis haben, in Ruhe mit einer Vertrauensperson zu sprechen um Ängste und schlimme Erlebnisse abzubauen. Deshalb mache ich jetzt jeden Tag mit einem anderen Kind einen kleinen Spaziergang und versuche mit ihnen über ernstere Themen zu sprechen, als das in der Gegenwart ihrer Freunde möglich ist.

Wenn ich zur Arbeit durch die Villa laufe, dann fühle ich mich immer noch sehr unwohl. Einige Male, sind mir ein paar äußerst zwielichtige Gestalten gefolgt. Erfahrungen, die den Weg zu meinem Projekt jeden Tag spannend machen. Ich versuche mich nicht zu auffällig zu kleiden und immer eine im Viertel bekannte Begleitperson dabei zu haben. In den Projekten fühle ich mich im Gegenteil dazu sehr sicher. Die Menschen, mit denen ich arbeite machen diese Arbeit seit vielen Jahren und haben den Kindern des Viertels sichere Orte gegeben, die auch von allen Bewohnern der Villa respektiert werden.
Durch die Eindrücke, die ich in diesem Viertel, meiner Arbeit und durch die Menschen gewonnen habe, bin ich denke ich sehr viel bescheidener geworden.
Organisiert werden die Projekte innerhalb der Villa von einer internationalen Gruppe von Ordensschwestern und Brüdern der Salezianer und der Franziskaner. Die Weise, auf die diese Gruppe lebt nennt sich „Inserción“ und bedeutet so viel wie „Einfügung“. Vor ein paar Jahren haben diese Ordensverbände erkannt, dass sie aus ihren Klöstern und Landgütern den Menschen nicht helfen können. Daraufhin haben sie alle ihre Immobilien und Ländereien verkauft und sind in verschiedenen Teilen des Landes direkt in die Elendsviertel gezogen, um dort zu leben und voll und ganz für die Menschen in Not da zu sein. Dies zu erleben hat mich schwer beeindruckt. Das Haus dieser Lebensgemeinschaft steht mitten in der Villa und ist rund um die Uhr Anlaufstelle für jeden, der Hilfe, Rat oder Begleitung braucht. Was mich daran so fasziniert ist die Entscheidung, keinen Unterschied mehr zwischen Freizeit und Beruf zu machen. Die Entscheidung sein eigenes Leben ganz und gar für andere Menschen einzusetzen und dafür auch schwierige Lebensumstände in Kauf zu nehmen.
Eine dieser Schwestern ist aus Kolumbien zuerst nach Italien ausgewandert und danach nach Buenos Aires gekommen. Sie hat jetzt seit vier Jahren keinen Menschen ihrer Familie gesehen, weil sie seitdem keine Pause von ihrer Arbeit genommen hat. Diese Frauen kümmern sich rührend um uns Freiwillige und sind bei jedem Seelenschmerz oder Problem für uns da. Wenn wir mal bei ihnen im Haus zum Maté trinken vorbeischauen, haben sie immer Zeit um über die Sachen, die uns bewegen, zu sprechen. Sei es die Arbeit oder ein privates Thema.
Nach den ersten drei Monaten fühle ich mich in der Umgebung meiner Arbeit und meiner Projekte akzeptiert und wirklich gut aufgenommen.

Wir Freiwilligen wohnen außerhalb der Villa etwa 10 Busminuten in einem sehr ruhigen und angenehmen Viertel. Zu dritt bewohnen wir hier ein kleines Reihenhäuschen, dass wir uns langsam aber stetig gemütlich machen. Es ist für mich schwierig zu verstehen, wie so große Armut direkt neben großem Reichtum existieren kann. Überraschend war für mich aber auch, wir schnell man sich an solche Ungleichheiten gewöhnt. Wenn vor unserem Haus jetzt eine Pferdekutsche hält, die „Cartoneros“ von ihrem Wagen springen und unseren Hausmüll mitnehmen, auf der Suche nach brauchbaren Dingen, ist das für mich schon total normal geworden. Ebenso war ich anfangs stets geschockt, in welchen Massen die doch deutlich runtergekommenen Straßenhunde durch die Gegend streifen. Jetzt gehören sie für mich einfach zum Stadtbild dazu.

Wir bereiten uns langsam auf den Sommer vor und erleben schon die ersten Hitzetage mit Siesta und warmen Frühlingsabenden.
Ich hoffe, euch allen geht es gut und ich konnte euch einen aufschlussreichen Einblick in meine neuen Lebensumstände geben.

Liebe Grüße aus Quilmes – Buenos Aires

Johannes

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